Bildungsvollzug

Der Systemwechsel ist geglückt. Unsere Schule befindet sich jetzt wieder im eingeschränkten Regelbetrieb. Damit ist Szenario B vorbei und die Vorteile des hybriden Lernens zwangsweise wieder abgeschafft. Jedoch ist das nicht der Systemwechsel, den ich meine. Schulen waren bis vor Kurzem Bildung und Anstalt zu ungefähr gleiche Teilen. Jetzt befinden wir uns im Bildungsvollzug. Mit einer großen Betonung auf Vollzug. Als Lehrer fühle ich mich einem Wärter einer Vollzugsanstalt wesentlich näher als dem Didaktiker, der ich versucht hatte zu sein.

Die Kritik am hybriden Lernen oder Home Schooling ist überall und in großen Teilen richtig. Ja, es bleiben einige Schüler*innen zurück. Ja, es ist unverhältnismäßig unfair für einkommensschwächere Familien. Ja, der Druck auf das Elternhaus steigt. Ja, bildungsfernere Schichten haben es ungleich schwerer. Aber diese Nachteile wiegen nur schwer, wenn man sie mit dem Normalzustand vergleicht. Wir haben keinen Normalzustand.

Wir wissen keinen Tag, ob wir am Ende des Tages in Quarantäne sind. Zwei Mal ist das seit den Ferien schon passiert. Unterricht entfällt wegen kranker Kollegen und einer größeren Vorsicht bei Symptomen auf beiden Seiten. Trotzdem muss dasselbe Pensum in weniger Zeit geschafft werden. Man muss Kontakte mit Schüler*innen vermeiden, statt Ihnen im Unterricht zu helfen. Extrem gestiegene Bürokratie, die die Schulen versucht offen zu halten, frisst die Zeit, die eine offene Schule bräuchte. Dazu das mulmige Gefühl, die geringe Planbarkeit. Da bleibt für wirkliches Lernen, wirkliche Schule weder Zeit noch Nerven übrig. Was bleibt denn noch von der Schule ohne die Menschen? Noten – und keine gerechten.

Wir könnten jetzt anpacken und die Fehler, die ich aufgezählt habe aus der Welt schaffen. Es sind keine unüberwindbaren Probleme. In der ersten Welle hat das meine Schule phantastisch gemacht. Aber so Deutsch, wie wir sind, müssen wir alle Energie darin stecken, dass sich bloß nichts verändert. Wir haben solche Angst vor Veränderung, dass es sogar die Angst vor einer Pandemie übersteigt. Das wird nun auch sichtbar, wenn wir 20 Millionen für Eltern und Aushilfen ausgeben, um die Schulen bloß offen zu halten. Die Bildung muss vollzogen werden, die Zeugnisse bleiben sicher. Ich frage mich, wie viele sozial schwachen Schülern man für 25 Millionen einen Laptop kaufen kann und wie viele geschulte Sozialpädagogen für die restlichen 20 Millionen ihnen wirklich helfen könnten. Bildungsvollzug ist lebenslänglich mit Chance auf Bewährung.

Niedersachsens Schulplan: Raumlüfter, mehr Lehrer – und Eltern als Betreuer auf 450-Euro-Basis

Niedersachsen stellt zusätzlich 45 Millionen Euro bereit, um den Schulen in der aktuellen Phase der Corona-Krise zu helfen. Allein 20 Millionen sind für die Einstellung von Betreuern ohne pädagogische Vorkenntnisse vorgesehen – sie sollen sich bereits ab Mittwoch bewerben können.

https://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Niedersachsen/Niedersachsens-Schulplan-Raumluefter-mehr-Lehrer-und-Eltern-als-Betreuer-auf-450-Euro-Basis

 

Offen gestanden

Das Netz ist geduldig, ansonsten würde es schon überquellen vor Meinungen zur Verhältnismäßigkeit der aktuellen Corona Maßnahmen. Offen gestanden muss ich zugeben, dass ich dieses Mal nicht weiß, ob mein Artikel nur zur Kakophonie beiträgt oder darüber hinaus etwas leistet. Ich möchte keinen Vergleich zwischen der Gastronomie und den Schulen herstellen. Hier soll nicht diskutiert werden, warum das eine geht und das andere nicht. Ich möchte lediglich darstellen, wie die Öffnung meiner Erfahrung nach gerade aussieht.

Die Gründe für die Offenhaltung der Schulen sind nachvollziehbar. In der Zeit der Schulschließung ist die häusliche Gewalt stark gestiegen. Einige Schülerinnen und Schüler zeigen große Anzeichen von Vernachlässigung und die Situation hat für sehr viel Stress bei ihnen gesorgt. Darüber hinaus halten die Schulen der Wirtschaft den Rücken frei, indem die Eltern weiterhin produktiv am Erwerbsleben teilnehmen können.

Schule hat einen gesellschaftlichen Auftrag zu dem die soziale Komponente genauso gehört, wie der Bildungsauftrag. Während wir die soziale Seite im Moment noch überwiegend erfüllen, kommt der Bildungsauftrag meiner Ansicht nach zu kurz. Mehr noch, er wird ad absurdum geführt. Es ist sehr schnell zur identifizieren, worum es in Niedersachsen geht. Zentraler Aspekt ist die Sicherstellung der Notengebung, so steht es auch wortwörtlich in den aktuellen Erlassen. Offen gestanden sieht es so aus als wäre der Bildungsauftrag in ein Prüfungsgebot verwandelt worden. Quintessentiell scheinen Noten zu sein und nicht, was die Schüler*innen dabei lernen.

Der Druck ist dabei auf die Schüler*innen enorm. Die Unregelmäßigkeiten durch Corona und Krankheitsfälle sorgen für große Verunsicherung. Es fallen Unterrichtsinhalte weg, es gibt größeren sozialen Klärungsbedarf und den Schülerinnen und fällt es enorm schwer, sich zu konzentrieren. Das betrifft nicht nur schwächere Schüler*innen, sondern auch sehr viele der starken. In der Lehramtsausbildung hört man immer wieder das Wort Ritualisierung. Für Schüler*innen jedes Alters ist eine verlässliche und beständige Regelung des Unterrichtsablaufs ungemein wichtig. Im Moment gibt es nur ritualisiertes Chaos. Falls wir jetzt noch Ziegen opfern würden, könnte man meinen, wir feiern eine anarchistische Messe.

Der Druck auf die Kolleginnen und Kollegen ist ebenso enorm. Die Arbeitsbelastung ist viel größer und statt einer Entlastung gibt es viele zusätzliche Regeln, mehr Papierkram und ein Roulet mit der Gesundheit anderer. Ich selbst bin gerade in Quarantäne und es ist nicht ruhig. Wir Lehrer sollen die Kommunikation mit dem Gesundheitsamt übernehmen. Wir Lehrer sollen dafür Sorgen, dass die Menschen zu ihren Tests kommen. Wir müssen mit den Schülern und Eltern reden. Und ganz nebenbei hat man noch Angst, um seine Gesundheit.

Es geht mir nicht darum zu sagen, dass es uns besonders schlecht geht. Da geht es dem Restaurant um die Ecke wesentlich schlechter. Ich möchte, dass mit einem realistischen Blick auf die Schulen, die Schüler*innen und die Kolleg*innen gesehen wird. Für mich ist das Fazit dieser Betrachtung: Die Schulen sind offen, das ist auch alles.

Offen gestanden verliere ich auch das Vertrauen in die Schulleiter*innen, nachdem ich schon das Vertrauen in die (Kommunal)Politik verloren habe. Auch auf schulischer Ebene scheint es einen Wettbewerb darum zu geben, wer unter schlechten Bedingungen noch am meisten hinbekommt. 80%, 90%, 100% der Stundentafel? Wer bietet mehr? Auch in den Schulen scheint es kaum um eines zu gehen: Wie geht es den Schülerinnen, Schülern, Lehrern und Lehrerinnen? Wie verkraften sie es? Was passiert mit den Menschen? Welchen Preis zahlen wir an dieser Ecke?

Wir könnten dauerhafte Lösungen im Hybrid-Unterricht finden. Wir könnten die Stundentafel auf das Wichtigste reduzieren. Wir könnten auch mal Arbeiten ausfallen lassen. Wir könnten so viel. Aber alles was wir könnten wird darauf ausgerichtet, dass Politiker*innen, Schulleiter*innen und viele mehr nach der Krise einen Satz sagen können:

„Dank meiner Bemühungen haben die Schulen offen gestanden.“