Heute ist es kaum zu glauben, das Internet war mal so etwas, wie eine Subkultur. Ein sozialer Raum in dem Sinne, wie der Hinterhof eines Gothic Clubs, komplett mit Patchouli-Nebel und Zigarettenstummeln. Als Dorfkind, mehr noch Dorfnerd, war es eine magische Mischung aus Rückzugsraum und Tor zur Welt. Einer der wenigen Wege, wie man als Eigenbrödler eigentlich mehr Kontakt zu anderen Menschen hatte als sonst, wenn auch nicht physisch. Auch damals war das Internet groß und voller Schrecken, es gibt nichts zu romantisieren. Aber eine gute Lebensweisheit war: Die Trolle nicht füttern. Ignoriert das Negative und konzentriert euch auf den positiven Teil der Community.
2020 ist das Internet Lebensraum geworden. Es gibt Milliarden Menschen, die nicht nur mit dem Internet aufgewachsen sind, sondern ein Leben ohne Internet nicht kennen. Das ist in der Konsequenz viel weitreichender als erst später dazu gekommen zu sein. Das Internet ist absolut, nicht steigerbar, es ist gegeben, da es für diese Menschen schon immer da war als Kommunikationskanal, wie Zeitungen, wie Fernsehen oder wie Sprache an sich. Daher lässt sich auch der Wert des Internets, sei es auch nur in Form von Instagram und Tiktok, für viele erklären. Es abzuschalten ist ähnlich abwegig, wie mit geschlossenen Augen durch die Straße zu laufen. Don’t feed the trolls ist das eine, Ignoranz der Realität das andere.
Das Internet ist schon lange real geworden. Es ist ein normaler Kommunikationskanal. Es ist keine abgelöste Welt, sondern Taten im Netz fordern Konsequenzen in der physischen Welt und vice versa. Die Trolle verhungern zu lassen hat keinen Sinn mehr. Zum einen werden sie zu gut gefüttert, zum anderen sind es inzwischen keine Trolle mehr, wie früher. Es sind echte Personen, die diese Einstellung auch ins echte Leben tragen.
George Floyd hat die Trolle nicht gefüttert als er passiv am Boden lag. Trotzdem haben die Trolle ihn gefressen. Rassenhass, systematischer Rassismus und Intoleranz existieren nicht erst seit dem Netz. Aber es erhärten sich die Beweise, das es durch bestimmte Plattformen wieder einen Aufschwung gibt. Und ich trage dafür eine Mitschuld. Ich trage eine große Schuld, durch die kleinen Dinge. Das fängt damit an, dass ich nur den Kopf schüttele, wenn Schulen den Namen mancher Schüler auch nach fünf Jahren nicht richtig schreiben können. Es hört damit auf, dass ich Plattformen wie Facebook unterstütze.
Facebook nahm eine zentrale Rolle in der Wahl von Trump ein, es nahm eine zentrale Rolle im Brexit ein, es nimmt eine zentrale Rolle in rechtsradikalen Diskursen sein. Dabei geht es nicht nur, um die Kommunikationsplattform, sondern auch um die erhobenen Daten. Ich habe kein Problem, mit nerviger Produktwerbung. Ich habe ein großes Problem, wenn die Daten dazu genutzt werden, demokratische Prozesse zu untergraben. Genau das passiert durch Microtargeting und andere Methoden. Ich weigere mich auch damit ein Unternehmen zu unterstützen, dass Hass in Geld verwandelt und Politiker, die Hass in Macht verwandeln. Im Netz entsteht eine Hassökonomie, die vorher nicht möglich war. Und das reicht mir nicht nur, weil dadurch Spinner unterstützt werden. Auch weil dadurch Menschen sterben, Demokratien wackeln und das gesellschaftliche Wohl vermindert wird. Don’t feed the Trolls ist keine Lösung mehr. Was die Lösung ist, weiß ich nicht.
Addendum:
Bei Fremdenfeindlichkeit mag ich zwar resistent sein, aber mir wird immer wieder bewusst, wie abgestumpft und sexistisch ich war. Ich bin ein Internet der Freiwilligkeit gewohnt, eines, das man abschalten kann. Dadurch schwang immer ein Gefühl das „es ist ja nicht so ernst“ mit. Ähnlich wie flamen schon immer ein Teil der Netzkultur war, aber bei weitem nicht so bitterer Ernst und so mies wie heute. Das Maß fehlt, eben wahrscheinlich auch deswegen, weil das Netz inzwischen Real Life ist. Es fällt nicht ins Gewicht, was man ernst meint und was nicht, wenn es hunderte und tausende Menschen machen. Man stimmt in einen Chor ein. Selbst ohne schlechte Absichten. Es würde auch reichen, wenn nur einer von einhunderttausend wirklich etwas im Schilde führt, man stärkt das Echo. Ich habe lange, sehr lange nicht Begriffen, wie ich Logiken aus überschaubar großen Communities auf das ganze Netz übertrage und damit ein Bild weiter verzerre, das so nicht aussieht. Das Netz ist wieder abschaltbar, noch überschaubar. Es ist ein gesellschaftlicher Lebensraum geworden. Ob ich will oder nicht, in diesem Raum wachsen meine Stieftocher und mein Stiefsohn auf. Selbst wenn ich nie auf Facebook mit Penisbildern um mich geworfen habe, habe ich verhalten gezeigt, dass das unterstützt. Trolle dürfen nicht gefüttert werden geht auch hier nicht weit genug. Trollen muss klar gemacht werden, dass sie Trolle sind. Trolle dürfen keinen Lebensraum haben.